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30. Jänner 2022

- Experten und Bürger planen Graz um - Ärger um Öffi-Tickets - Generalprobe für neuen Speicherkanal - Jubiläum: Ein Jahr „Grazer“-Epaper - Jürgen Roth im Interview

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eco 20 www.grazer.at 30. JÄNNER 2022 Runder Tisch der Industrie: „Die Lehre ist zu 100 Prozent V. l.: Herbert Walser (Magna Steyr) und Bernhard Pesenhofer (Andritz) diskutierten, moderiert von Fabian Kleindienst (Grazer), mit Herbert Tanner (Siemens), Helmut Röck (WKO) und Bernhard Posch (AVL List) über die Lehre in der technischen Industrie. DISKUSSION. Experten von Andritz, AVL, Siemens und Magna diskutierten im „Runden Tisch“ über die Industrielehre. Man kämpft mit Klischees und fordert besseren Berufsorientierungs-Unterricht. Von Fabian Kleindienst fabian.kleindienst@grazer.at Die Arbeitslosigkeit liegt unter dem Vorkrisenniveau, die steirischen Unternehmen schreiben so viele Stellen aus wie nie. Die heimische Wirtschaft brummt – gleichzeitig kämpft man, insbesondere in der technischen Industrie, zusehends mit dem Fachkräftemangel. Nicht zuletzt deshalb suchen die Betriebe intensiv nach geeigneten Lehrlingen in diesen Zukunftsbranchen. Dabei schnürt man überaus attraktive Angebote: Ein Lehrling in der metalltechnischen oder Fahrzeugindustrie verdient beispielsweise im 4. Lehrjahr mindestens 1750 Euro und mit Lehrabschluss ein Mindestgehalt von 2328,44 Euro. In der Elektro- und Elektronikindustrie bekommt ein Industrielehrling im 4. Lehrjahr sogar 1829,63 Euro. Berufsorientierung Die Lehrlingsbilanz der Wirtschaftskammer zeigt einen positiven Trend, einen Anstieg der Lehranfänger – gleichzeitig hat die Lehre immer noch mit Klischees zu kämpfen. „Speziell die Industrie ist immer noch stark mit Bildern wie ‚schwer’ oder ‚dreckig’ behaftet“, erzählt Bernhard Pesenhofer, Leiter der Lehrwerkstätte bei Andritz. Das schrecke viele junge Menschen ab. „Wir versuchen da bewusst, andere Bilder zu setzen und ein realistischeres Bild zu vermitteln“, betont Helmut Röck von der WKO-Sparte Industrie. Die Unternehmen seien mittlerweile in Klimafragen hochinnovativ, die Digitalisierung greife immer stärker um sich. Herbert Walser, Leiter der Lehrwerkstätte bei Magna Steyr, betont: „Die jungen Menschen sehen, dass wir eine sehr innovative Branche sind. Das Bild, dass die Industrie schmutzig und laut ist, wird ja erst in die Jugendlichen hineingepflanzt. Deshalb ist für mich ganz klar, wo man ansetzen muss: in der Berufsorientierung.“ So könne man zeigen, wie es wirklich abläuft, und Schnupperpraktika ermöglichen jungen Menschen, die Branchen selbst zu erleben. Eine bessere Berufsorientierung wird eine Schlüsselposition im Kampf gegen den Fachkräftemangel einnehmen, da war sich die Expertenrunde in der Diskussion Walser und Pesenhofer fordern mehr Fokus auf die Berufsorientierung. einig. Dabei sei es auch entscheidend, die Eltern miteinzubeziehen und ihnen die Vorteile einer Lehre zu vermitteln, wie Herbert Tanner, Grazer Standortleiter von Siemens, betont: „Ich hätte nie gedacht, dass sie bei derartigen Karriereentscheidungen so viel mitreden.“ Vergangene Veranstaltungen mit Lehrlingen hätten das aber bestätigt. Argumente für einen Weg in die Industrielehre gibt es auch abseits des Verdienstes einige. Über 80 Prozent der Industrielehrlinge bleiben längerfristig im Betrieb, 97 Prozent schließen die Lehrabschlussprüfung positiv ab, ein Viertel sogar mit Auszeichnung. „Die Lehre ist ein idealer Eintritt in ein sehr großes Unternehmen“, betont Pesenhofer. Dort könne man sich dann weiterentwickeln, wie Walser dementsprechend ergänzt: „Es gibt nicht nur Karrieremöglichkeiten in vertikaler, sondern auch in horizontaler Richtung. Ein großes Industrieunternehmen bietet die Möglichkeit, in verschiedenste Bereiche hineinzuwachsen – und so den Job möglichst lange spannend und attraktiv zu halten.“ Wichtig sei aber, so Röck: „Es sind die Chan-

30. JÄNNER 2022 www.grazer.at eco 21 die richtige Entscheidung“ cen da, aber man muss auch nicht. Es gibt Möglichkeiten zu Vertiefungen, zu Weiterbildungen und zum Aufstieg – aber man kann auch einfach in seinem Bereich bleiben.“ Klimafit und innovativ Attraktiv ist die Arbeit in der Industrie nicht zuletzt aufgrund ihres hochinnovativen Charakters. Die Digitalisierung wird immer wichtiger, neue Lehrausbildungen wie zuletzt „Applikationsentwicklung und Coding“ entstehen, die steirischen Industriebetriebe geben fast zwei Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung aus. „Bei den Jugendlichen gibt es eine Werteänderung. Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein sind viel wichtiger geworden“, weiß Pesenhofer. Bernhard Posch, Leiter der Lehrwerkstätte der AVL, ergänzt: „Wir müssen den Jugendlichen zeigen, was der Beitrag der Industrie zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit ist.“ Schlussendlich sei man dabei, hält Tanner fest, „erst am Beginn der Entwicklung“. Frauen gefragt Ein zentrales Thema bei der Diskussion war es auch, mehr Frauen für die technische Industrie zu begeistern. „Frauen tun der Struktur und der Organisation im Betrieb sehr gut“, betont etwa Tanner. Und Posch ergänzt: „Die sogenannten ‚Soft Skills‘ werden immer wichtiger, und da bringen Mädchen sehr viel mit.“ Ganz abgesehen von den richtigen Talenten, da seien vor allem veraltete Rollenbilder das Problem, wie Röck mit Verweis auf das Talentcenter WKO erzählt: „Bei Mädchen sind die technischen Fähigkeiten ähnlich verteilt wie bei den Burschen. Erst wenn man die Interessen da rüberlegt, rücken wieder stereotype Berufe in den Vordergrund.“ Die besagten klischeehaften Bilder der Industrie erschweren die Situation. Lehre als Basis Damit war erneut die Brücke zum Thema Berufsorientierung geschlagen. Posch: „Viele wissen in Es gibt zu wenig Orientierung für junge Menschen, sie wissen oft nicht, welche Berufe es überhaupt gibt.“ Bernhard Posch, AVL, sieht in der Berufsorientierung noch Potenzial. Die Talente sind zwischen Burschen und Mädchen gleichmäßig verteilt.“ Helmut Röck, WKO-Sparte Industrie, über veraltete Rollenbilder und Tests im WKO-Talentcenter jungem Alter ja noch gar nicht, was für Berufe, was für Möglichkeiten es gibt.“ Vielfach sei die Matura bei Unsicherheiten noch die erste Wahl, Tanner hofft auf ein Umdenken: „Ich habe mit der Lehre eine vernünftige Ausbildung, mit der ich definitiv etwas machen kann.“ Pesenhofer ergänzt: „Man hat ein fixes Standbein und muss eigentlich keine Sorge haben, später keinen Job zu finden.“ Es sei auch möglich, parallel die Matura zu machen. „Ich bin zu 100 Prozent überzeugt, dass die Lehre die absolut richtige Entscheidung ist.“ Immer häufiger finden sich mittlerweile auch Personen, die sich nach der Matura und sogar nach dem Studium noch für eine Industrielehre entscheiden. „Der Altersschnitt geht generell nach oben“, erzählt Walser. Tanner: „Auch wenn man sich nach der Matura richtig entscheidet, hat man noch immer das ganze Leben vor sich.“ Positive Zukunft Für die Zukunft gaben sich die Experten doch optimistisch. Posch: „Wir haben gesehen, dass die Unternehmen auch in Zeiten der Krise weiterhin auf die Lehre gesetzt haben – das zeigt ihren großen Stellenwert.“ Wenn man in Zukunft einen stärkeren Fokus auf Berufsorientierung lege, dann „sind wir auf einem guten Weg, ich bin sehr positiv gestimmt“, so Tanner zum Abschluss. Alle Lehrstellen Alle Industrielehrstellen finden sich unter: https://www. dieindustrie.at/lehrstellensteiermark/ V. l.: Walser, Pesenhofer, Posch, Röck und Tanner vor dem „Runden Tisch“ in der Andritz-Lehrlingswerkstätte JB (3)

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